Derailing

Derailing (manchmal auch: Derailment) bedeutet wörtlich „Entgleisen“, und beschreibt den Effekt bereits ganz gut: Eine Diskussion verlässt ihr vorgesehenes Gleis und wird zu einem Nebenschauplatz abgelenkt oder gelegentlich auch zu einem ganz entfernten Ort. Das eigentliche Ziel der fruchtvollen Diskussion, wird damit torpediert.

Derailing ist hierbei ein Oberbegriff für eine Reihe von Angriffstaktiken, der Diskussionen oft ausgeliefert sein können. 

Wie funktioniert es?

Um Diskussionen zum Entgleisen zu bringen, steht einem ein ganzes Füllhorn von Desinformationstaktiken zur Verfügung.

Konkret kann ein geschickt eingesetztes falsches Dilemma ein Derailing verursachen, weil sich die Diskussion irgendwann nur noch um die fiktive Entweder-Oder-Frage dreht. Auch ein Whataboutism kann mit dem richtigen „What-About“-Argument die Diskussion in eine komplett andere Richtung lenken. Ebenso kann ein Strohmann-Argument dazu führen, dass die Diskussion sich nur noch mit dem fiktiven eingebrachten Thema beschäftigt. In jedem Fall ist jedoch die eigentliche Diskussion entgleist, das ursprüngliche Thema wurde schon längst aus den Augen verloren.

Anders als bei Strategien, die von Anfang an darauf angelegt sind, die Diskussion auf sehr offensichtliche Weise scheitern zu lassen, wie zum Beispiel die Dead Cat Strategy (Schockieren durch Tabuthemen) ist das Derailing subtiler. Alle oben beschriebenen konkreten Angriffstaktiken basieren darauf, dass sie nicht erkannt werden, bis die Diskussion bereits entgleist ist.

Eine wirksame Standard-Technik ist beispielsweise daher auch das Aufgreifen von Nebenaspekten des eigentlichen Themas, die in der Folge in den Mittelpunkt gestellt werden und dabei manchmal unmerklich das eigentliche Thema verdrängen. Auch geschickt eingebrachte Desinformation kann, wenn sie nicht sofort erkannt und als solche benannt wird, die Diskussion zuverlässig entgleisen lassen, weil sich diese nur noch um Fake News dreht.

Ein paar Beispiele

Ein oft genutztes Derailing, das wir alle kennen, ist die klassische Beleidigung. Anstatt inhaltlich auf eine Aussage einzugehen, werden die Gesprächspartner*innen persönlich angegriffen, ihre Grammatik oder Rechtschreibung kritisiert oder sie mit zufällig ausgewählten Inhalten ihres Profils konfrontiert. Wenn sich diese dann gegen die Beleidigungen wehren, wird wahlweise mit anderen Derailing-Strategien geantwortet oder mangelnde Debattenkultur vorgeworfen.

Derailing funktioniert auch durch das komplette Austauschen eines Themas und/oder durch Einbringen von Fake News. Die AfD-Fraktion NRW versuchte beispielsweise im August 2023 ein Derailing einer Diskussion über Windkraft mit pseudowissenschaftlichen Erzählungen über die Gefährlichkeit von Mikroplastik für Kinder, dessen Konzentration in der Nähe von Windrädern angeblich besonders hoch sei.

Oder es geht um rechte Gewalt, und euer Gegenüber kontert mit vermeintlich genau so schlimmem Linksextremismus. Dieses Derailing ist nicht nur ein Whataboutism, sondern auch ein Hufeisen (Gleichgewichtung von linker und rechter Gewalt).

Abseits der digitalen Welt findet sich Derailing zum Beispiel auch bei Talkshows und Podiumsdiskussionen, wenn ausufernde Zwischenfragen gestellt werden, bei denen ein Bezug zum Thema der Veranstaltung zunehmend schwerer erkennbar wird. Gerne genommen werden hier auch Suggestiv-Fragen, die bereits bestimmte Antworten implizieren. Auch hier ist es das Ziel, möglichst wenig über das eigentliche Thema zu diskutieren und dabei im Gespräch vermeintlich die Oberhand zu behalten.

Auch kennen wir diese oder ähnliche Beispiele aus den sozialen Netzwerken: Ein Bericht über ein beliebiges Thema, beispielsweise die ÖPNV-Versorgung einer Stadt, und darunter findet sich ein bunter Strauß an Kommentaren mit einer deutlichen Meinung zu gendergerechter Sprache, der Kriminalstatistik oder der aktuellen Bundesregierung. Die „Derailing-Themen“ sind dabei oft saisonal: Zu Hochzeiten der Pandemie konnte man unter gefühlt jedem Beitrag Kommentare zu Masken oder Impfungen finden, egal worum es darin eigentlich ging.

Gezielt von der AfD eingesetzte Desinformation, um die Diskussion um Windkraft in absurde Bahnen zu lenken.
Screenshot: AfD-Fraktion NRW auf Instagram

Was bewirkt die Strategie?

Diskussionen werden nicht mehr mit dem Ziel geführt, sich über ein vorher festgelegtes Thema auszutauschen. Oft kommt es sogar gar nicht erst zu einem wirklichen Dialog, sondern nur noch zum Entgegenschreien von Meinungen und Standpunkten, unabhängig davon, ob das Gegenüber gerade bereit ist, diese zu hören.

Im Internet lässt sich der Effekt manchmal deutlich an Zahlen veranschaulichen. Findet sich in den Kommentaren zu einem Beitrag ein geschickt platzierter Versuch eines Derailings, so hat dieser spezielle Kommentarthread manchmal sogar mehr Antworten als es insgesamt sinnvolle Kommentare zum Thema gibt. Ein immenser Teil der Diskussion ist also auf das falsche Gleis gelaufen. Energie, die vielleicht sinnvoll in der Diskussion hätte eingesetzt werden können, wurde verschwendet um Strohmänner zu bekämpfen, gegen Fake News zu argumentieren oder sich mit einer beliebigen Phantomdiskussion zu beschäftigen, die mit dem eigentlichen Thema gar nichts zu tun hat.

Online-Diskussionen werden daher oft als mühselig und sinnlos empfunden, und genau das ist das Ziel des dauernden Derailings: Diskussionen zu vergiften und abzusägen, die nicht in die eigene Ideologie passen oder der persönlichen Meinung widersprechen. Dadurch verlieren Menschen generell die Lust an der Debatte, und Diskussionen bekommen ein schlechtes Image („bringt ja eh nichts“, „nur Streit, nicht zielführend“).

Es fällt besonders in den sozialen Medien leicht, eine „Übermacht“ für einen bestimmten Standpunkt zu suggerieren, wenn es sich um gezielte Aktionen handelt. Das Ergebnis ist in jedem Fall eine Demoralisierung. Wichtige Diskussionen werden aus Resignation vielleicht gar nicht erst geführt.

Warum ist sie so gefährlich?

Sie bindet Kräfte in sinnlosen Diskussionen und nimmt vielen Menschen die Lust auf eine sachliche, faktenorientierte Debatte. Wer noch nicht viel Erfahrung in Diskussionskultur hat, verliert bei massivem Derailing oft nachhaltig die Freude am Diskutieren.

Gleichzeitig erweckt es den Eindruck, am eigentlichen Thema herrsche nur geringes Interesse, wenn Kommentarspalten mit anderen Themen geflutet werden. Werden bei einem Thema zum Derailing immer wieder die gleichen Argumente benutzt, lenkt dies die Aufmerksamkeit auf diese eigentlich vollkommen unwichtigen Aspekte. Sie werden im Extremfall von den Medien reproduziert oder im Wahlkampf von Parteien eingesetzt (siehe obiges Bild: Diskussion über Windkraft wird durch absurde Desinformation zu einer Diskussion über Kindeswohl umgelenkt).

Ein prominenter Meister des Derailings war der frühere britische Premierminister Johnson, der von kritischen Fragen zu seiner Politik zuverlässig durch skurrile Auftritte abzulenken verstand.

Was tun, und was nicht?

Da die konkreten Taktiken des Derailings unterschiedlich sind, ist auch der Konter auf einen Derailing-Versuch nicht immer komplett gleich. Subtile Taktiken wie Whataboutism oder ein falsches Dilemma müssen zunächst einmal erkannt werden, bevor man sie entsprechend entkräften kann. Deshalb ist es umso wichtiger, all diese Tricks und Fallstricke zu kennen, damit man früh genug eingreifen und gegensteuern kann, bevor die Diskussion entgleist.

Generell wichtig ist aber:

  • Den Gegenstand des Gesprächs nicht aus dem Auge verlieren. Hat man den Eindruck, es handelt sich nicht um bewusstes Derailing, sondern um ein tatsächliches Anliegen des Gegenübers, kann man hier ein Gespräch zu einem späteren Zeitpunkt anbieten.

  • Die Taktik offen ansprechen und deutlich machen, dass man nicht mitspielt. „Derailer*innen“ sind oft stolz auf ihr vermeintliches rhetorisches Talent. Lässt man durchblicken, dass sie damit nicht weiterkommen, ist ein freiwilliger Rückzug nicht unwahrscheinlich. Kommt es trotzdem zu weiterer Diskussion in der Richtung, sollte man darauf bestehen, beim Thema zu bleiben und im Zweifelsfall die Diskussion beenden, wenn kein Einlenken erkennbar ist.

  • Beruht das Derailing auf Desinformation, muss diese klar benannt werden. Moderator*innen in Gruppen, Kanälen oder auf Seiten sind hier auch gefragt, offensichtliche Kommentare mit Desinformation zu löschen oder auszublenden, um die Diskussion faktenbasiert zu halten.

  • Bei Veranstaltungen: Moderation schulen und im Vorfeld Strategien zum Umgang mit Störer*innen absprechen, wie z.B. in letzter Konsequenz vom Hausrecht Gebrauch zu machen und die Personen der Veranstaltung zu verweisen. Das Kapern von Bühnen und Podien zu eigenen Zwecken ist ebenfalls eine gängige populistische Taktik, die man nicht zulassen sollte.

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