False Balance

False Balance, im Deutschen auch als „falsche Ausgewogenheit“ bekannt, ist eine Strategie, die durch die gezielte Auswahl von Quellen eine Gleichwertigkeit der jeweiligen Aussagen im Diskurs suggeriert, und dabei verschleiert, dass ein Teil der Quellen eine extreme Mindermeinung wiedergeben oder sogar nachweisbar falsch sind. Gibt man z.B. einem wissenschaftlichen Konsens die gleiche Sendezeit oder den gleichen Raum wie der schrillen Einzelmeinung, so ist das scheinbar ausgewogen. Es repräsentiert jedoch nicht die wirkliche Sachlage und führt in der Öffentlichkeit zu einer verzerrten Wahrnehmung.

Wie funktioniert es?

Indem man ignoriert, welches Gewicht die jeweiligen Darstellungen und Theorien (im wissenschaftlichen Sinn) in der Realität haben.

Oftmals werden “radikal andere” Stellungnahmen auch bevorzugt gesendet oder ihre Vertreter*innen eingeladen, weil sie Aufmerksamkeit auf sich ziehen und polarisieren. In diesem Fall machen Medien sich zu Erfüllungsgehilf*innen einer Desinformationsstrategie, die das Vertrauen in die und das Verständnis der Wissenschaft torpediert.

Unerfahrene Medienschaffende oder Veranstaltende können auch dazu verleitet werden, “beide Seiten” einzuladen, um sich nicht dem Vorwurf auszusetzen, einem Bias zu unterliegen.

False Balance in den MedienIn der Außenwahrnehmung entsteht ein verzerrtes Bild der tatsächlichen Sachlage.
False Balance in den Medien
In der Außenwahrnehmung entsteht ein verzerrtes Bild der tatsächlichen Sachlage.

Während es für einen politischen Diskurs durchaus sinnvoll sein kann, alle Meinungen in einer Runde zu repräsentieren, lässt sich dieses Prinzip auf Naturwissenschaften schlicht und einfach nicht anwenden. Sinnvoller Diskurs kann hier nur auf einer gemeinsamen Faktenbasis funktionieren. Die Fakten liegen dort niemals in der Mitte, sonst wäre die Erde zwischen Kugelgestalt und angeblicher Flacherde eine Art Blob. Dieses fundamentale Prinzip zu ignorieren, führt zu einem teils fatalen Ungleichgewicht.

Denn Hand in Hand mit dieser auf Medienseite vertretenen Taktik geht auf Seite der Desinformation verbreitenden Stellen die Strategie, entsprechende Vertreter*innen zu stellen, die dann mit Pseudoexpertise die mediale Waagschale zu ihren Gunsten füllen.

Besonders groß ist die Wahrscheinlichkeit für False Balance, wenn ein umstrittenes und komplexes Thema mit mangelnder Expertise auf Seiten der Journalist*innen zusammentrifft. Hier kann der Wunsch, besonders ausgewogen zu berichten, genau das Gegenteil erreichen. 

Ein paar Beispiele

Andere Beispiele finden sich oft in Talkrunden oder Berichten zu medizinischen Themen. Pseudomedizinische Methoden wie Homöopathie finden besonders in Deutschland eine breite Akzeptanz auch in den Medien. Dementsprechend fällt auch oft die Berichterstattung aus: Heilpraktiker*innen werden mit Mediziner*innen, was die Kompetenz angeht, gleichgesetzt. Pseudowissenschaft wird als valide Alternative zu evidenzbasierter Medizin vermittelt.

Ein aktuelles Beispiel für False Balance bietet die Sendung „Maischberger“ vom 13.02.2024.

Stefan Aust, der trotz journalistischer Kompetenz qua seiner Vita, in Sachfragen zu Klimawandel und Energiewende nun mal ein Laie ist, äußerte sich in der Talkrunde mit entsprechend faktenfernen Aussagen zum Thema, die mit einer kurzen Google-Suche leicht widerlegbar sind. Die weiteren Gäste, Anja Kohl (ARD) und Kristina Kunz (RND) widerlegten seine Aussagen, sodass sich Stefan Aust am Ende in Klimawandel-Leugnung flüchtete.

Am Ende blieben seine Aussagen uneingeordnet stehen und der letztendlich transportierte Eindruck war, dass sich dort ein redegewandter Mann mit seriösem Hintergrund über Attacken von zwei Seiten amüsiert. In Wirklichkeit handelte es sich jedoch um unkommentierte, offensichtliche Desinformation. Einen ausführlichen Faktencheck findet ihr beim „Graslutscher“ Jan Hegenberg in einem Facbook-Post zum Thema

Stefan Aust zu Gast bei Maischberger
Stefan Aust zu Gast bei Maischberger
Sendung vom 13.02.2024 (Screenshot: ARD Mediathek)

Der Irische Comedian, Mathematiker und theoretische Physiker Dara Ó Briain stellt das Problem der False Balance mit typischem irischen Humor dar:

„Bloke who’s been a professor of dentistry for 40 years does not have a debate with some eejit who removes his teeth with string and a door. It’s nonsense.“

„Ein Typ, der seit 40 Jahren Professor der Zahnmedizin ist, diskutiert nicht mit einem Deppen, der sich seine Zähne mit einer Schnur und einer Tür zieht. Das ist Blödsinn.“

Im gesellschaftlichen und politischen Bereich kann eine False Balance dafür sorgen, dass in Talkshows oder auf Veranstaltungen Politiker*innen aller Parteien oder Richtungen eingeladen werden, auch eben solche von denen, die sich gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung stellen. Aus dem Wunsch, das komplette politische Spektrum und alle Positionen und Meinungen abzudecken, resultiert dann dieser Fehlschluss. Denn zum einen ist es erklärtes Ziel von populistischen Bewegungen, Bühnen und Podien unter dem Vorwand des Dialogs zu kapern, um die eigene Ideologie zu verbreiten. Und zum anderen haben menschenfeindliche Positionen und Meinungen in einer politischen Diskussion genauso wenig verloren, wie unwissenschaftliche Meinungen in einer wissenschaftlichen Diskussion. Im gesellschaftlichen Kontext ist die Beachtung des Toleranz-Paradoxons daher extrem wichtig.

Was bewirkt die Strategie?

Besitzt man in einem Fachgebiet nicht selbst Expertise, ist man auf Expert*innenwissen angewiesen. Wenn jemand in den Medien zu einem Thema befragt wird, so geht man in der Regel davon aus, dass diese Person sorgfältig aufgrund ihres Wissens ausgewählt wurde.

Lade ich in eine Talkshow zwei Gäste ein, von denen einer den aktuellen Stand der Wissenschaft repräsentiert, der andere eine extreme Außenseiterposition einnimmt, dann vermittele ich dem Publikum das Gefühl, die beiden Positionen seien gleichwertig und stünden gleichberechtigt nebeneinander.

Das führt dazu, dass es schwieriger wird, ohne ausgiebige Recherche den Informationswert einzuschätzen. Eine erhebliche verzerrte Wahrnehmung des Themas in der Öffentlichkeit ist die Folge. Die Einzelmeinung oder Falschinformation wird aufgewertet.

Der Effekt, der aus False Balance resultiert, wurde und wird auch immer wieder zu populistischen Zwecken eingesetzt: So versuchte die Tabakindustrie über Jahrzehnte hinweg, die Gefahren des Rauchens herunterzuspielen; ebenso bedient sich aktuell die fossile Energiebranche derselben Methode, um die Klimakrise zu verharmlosen. 

Warum ist sie so gefährlich?

Sie führt dazu, dass irrelevante, überholte oder schlicht falsche Positionen einen Stellenwert erhalten, der ihnen nicht gebührt, und der dazu führt, dass relevante Inhalte untergehen können.

Daraus folgt wiederum eine Verunsicherung in Bezug auf die Funktionsweise wissenschaftlicher Forschung (“da sagt ja jeder etwas anderes”, “zwei Experten, drei Meinungen” und ähnliche Reaktionen) und ein Vertrauensverlust in echte Fachleute. Das alles kann dazu führen, dass wichtige Maßnahmen (z.B. im Hinblick auf den Klimawandel) nicht ergriffen werden.

Die Pandemie lieferte ebenfalls typische Beispiele für False Balance: Pseudoexperten wie Sucharit Bhakdi wurde zu viel medialer Raum zugestanden, was zu seiner gefühlten Glaubwürdigkeit beigetragen hat. Auch hier führte False Balance letzten Endes dazu, dass hilfreiche Maßnahmen wie Maskenpflicht auf Widerstand in der Bevölkerung stießen.

Populistische Parteien wie die AfD machen sich den Effekt zunutze, indem sie ihr Parteiprogramm und ihre Argumentation auf dem verzerrten Bild der Faktenlage aufbauen und damit auch politischen Einfluss gewinnen können; sie bieten vielen False-Balance-Szenarien überhaupt erst eine Bühne. Die Ablehnung der seriösen Wissenschaft, sich eingehender mit den pseudowissenschaftlichen Thesen und Einwürfen zu befassen, wird als stilles Eingeständnis gewertet, die Diskussion verloren zu haben.

In Wirklichkeit sind jene Thesen jedoch oft so hanebüchen, dass sich wirkliche Expert*innen erst gar nicht damit befassen (Stichwort Prof. Christian Drosten:“Ich habe Besseres zu tun.“ auf die Bitte, eine absurde Kritik zu kommentieren). Dies ist der Öffentlichkeit jedoch in weiten Teilen nicht bewusst, was wir besonders während der Pandemie deutlich beobachten konnten und führt letztendlich weiter zu einer generellen Ablehnung etablierter wissenschaftlicher Methoden in der Gesellschaft.

Was tun, und was nicht?

Grundsätzlich müssen vor allem die Medien etwas tun. Eine ausgewogene Berichterstattung ist wichtig, aber sie darf nicht logischen Denkfehlern und Desinformation zum Opfer fallen. Bei der Auswahl von Gästen für eine Talkshow oder beim Schnitt für eine Dokumentation muss dies unbedingt berücksichtigt werden; Falschaussagen müssen dort unmissverständlich erkennbar und im Kontext erläutert werden.

Die BBC hat beispielsweise, was die Berichterstattung über die Klimakrise angeht, eine klare Richtlinie erlassen, in der es auszugsweise heißt:

„To achieve impartiality, you do not need to include outright deniers of climate change in BBC coverage, in the same way you would not have someone denying that Manchester United won 2-0 last Saturday. The referee has spoken.“

„Um Unparteilichkeit zu erreichen, muss man keine absoluten Leugner des Klimawandels in die BBC-Berichterstattung einbeziehen, so wie man auch niemanden braucht, der bestreitet, dass Manchester United letzten Samstag 2:0 gewonnen hat. Der Schiedsrichter hat gesprochen.“

Zusätzlich werden Seminare für Mitarbeitende der BBC angeboten, wo wissenschaftliche und journalistische Hintergründe zur Klimakrise vermittelt werden. Dies ist natürlich ein ideales Szenario, welches man sich auch für die deutsche Medienlandschaft wünschen würde. Leider lassen solche klaren Richtlinien aktuell noch auf sich warten.

Niemand kann Expertise in allen Bereichen vorweisen, auch Journalist*innen nicht. Das entbindet uns aber nicht von der Sorgfaltspflicht, (vermeintliche) Fachleute und ihren jeweiligen Stand in der Wissenschaft einzuordnen. Unter Umständen kann es durchaus sinnvoll sein, einer solchen Position den Raum zu geben, beispielsweise, wenn die jeweilige Position in der Bevölkerung bekannt ist und durchaus vertreten wird. Wenn die Statements nun einem Faktencheck und einer Einordnung unterworfen werden, kann hier beim Publikum durchaus ein Erkenntnisgewinn die Folge sein.

Auch außerhalb der Medien ist man gefordert: Hier gehen False Balance und der beliebte Confirmation Bias, der Bestätigungsfehler, Hand in Hand. Wenn ich etwas glauben will, erhöht das die Chance signifikant, demjenigen mehr Vertrauen zu schenken, der die entsprechende Position vertritt. Helfe ich nun selbst noch dabei mit, diese Randposition zu verbreiten, werde ich Teil des Problems der Aufwertung.

Reflexion eigener kognitiver Verzerrungen sowie eigene Recherche über die Expert*innen und ihre Positionen sind also ein ziemlich guter Schutz gegen False Balance.

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