Sealioning
Sealioning (dt: Verhalten wie Seelöwen) ist eine ausgefeilte Technik, bei der ein Part Interesse am Gesprächsgegenstand vortäuscht und scheinbar interessiert Fragen stellt, jedoch einem Seelöwen gleich “herumbrüllt”. Der Grundsatz “Wer fragt, führt” trifft hier nicht zu. Vielmehr ist das wiederholte Nachfragen nach Belegen, die längst vorgebracht wurden, eine Form des Trollings.
Ein argumentativer Austausch findet hier nicht statt. Sachliche und faktisch korrekte Antworten werden hinterfragt oder das Thema wird gewechselt und ein neuer Aspekt angeschnitten. Verwandte Techniken sind unter anderem Gish Gallop, Whataboutism oder Moving the Goalposts.
Der Begriff geht auf einen Comic mit dem Titel “The Terrible Sea Lion” von David Malki aus 2014 zurück. Eine Figur äußert im Gespräch, dass sie keine Seelöwen mag, woraufhin plötzlich ein Seelöwe auftaucht und die Person hartnäckig bis ins Schlafzimmer verfolgt und – sehr höflich – verlangt, dies zu begründen und dabei “nur Fragen stellt”.
Wie funktioniert es?
Die Taktik basiert auf der “Wer fragt, führt”-Faustregel der Rhetorik und unserer Konditionierung, auf höflich gestellte Fragen zu antworten.
Statt einer inhaltlichen Diskussion wird man von Frage zu Frage geleitet und soll sich rechtfertigen. Da das Gegenüber ehrliches Interesse vorgaukelt, fällt es im laufenden Gespräch oft schwer, angemessen zu reagieren. Auf ernst gemeinte Antworten wird stetig mit Rückfragen geantwortet und damit die Diskussion “ad nauseam” (lat. “bis zur Seekrankheit”, ugs. “bis zum Erbrechen”) weiter in Gang gehalten.
Ein paar Beispiele
Eine typische Situation eines Sealionings könnte zum Beispiel sein:
In einer Diskussion über das Thema X erwähnt jemand den Fakt oder Umstand Y, der ja hinlänglich bekannt oder gesichert sei. Dabei handelt es sich eigentlich nur um einen Nebenaspekt, der mit dem eigentlichen Thema nur entfernt etwas zu tun hat. Dies ist der Punkt an dem der Seelöwe “A” den Hebel ansetzt:
A: “Warum meinst du denn, dass Y so stimmt? Ich habe mal gelesen, dass das ganz anders ist. Kannst du mir zeigen, wo du das her hast?”
B: “Natürlich, hier ist die Quelle: [Link]. Da kann man das alles nachlesen.”
A: “Ja, aber ich verstehe immer noch nicht, wie man darauf kommt, dass Y richtig ist. Man könnte das doch auch ganz anders sehen, oder?”
B: “Nein, eigentlich nicht. Die Fakten sind da eindeutig.”
A: “Ich habe mich nochmal mit dem Thema beschäftigt, und herausgefunden, dass die Fakten, von denen du sprichst, gar nicht so gesichert sind. Kannst du mir erklären, warum du dir da so sicher bist?”
B: “Es gibt da wirklich keinen Zweifel, die Fakten sind doch wirklich Allgemeinwissen…”
A: “Ja, aber ich verstehe nicht ganz, wie man dann auf so eine Schlussfolgerung kommt. Wenn die Fakten so eindeutig sind, kann man dann wirklich auf Y kommen? Ich hab da ehrlich meine Zweifel. Zeig mir doch bitte mal, woher du wissen willst, dass das wirklich Y ist. Kann man nicht auch Z sagen?”
B: “Nein, wirklich nicht, das habe ich doch oben schon geschrieben. Wenn wir auf die Fakten schauen, kann es nur Y sein…”
Viele Kommentare später…
A: “Können wir denn wirklich sicher sein, dass die Fakten so stimmen? Immerhin hat sich die Wissenschaft ja auch mal geirrt…”
B: “Jetzt reicht es aber verdammt noch mal! Wenn du zu doof bist, einen Artikel zu verstehen, kann ich da auch nichts machen. Ich hab keine Lust mehr, hier weiter zu diskutieren. Geh doch dahin, wo der Pfeffer wächst!”
A: “Hey, warum gehst du mich auf einmal so an? Ich hab nur nachgefragt, weil mich das wirklich wichtige Thema hier interessiert. Aber wenn du lieber mit Beleidigungen kommst, ist mir klar, dass du eigentlich gar keine Argumente hast. Diskutieren kann man mit dir sowieso nicht, wie man hier sieht.”
B: “…”
Im Endeffekt verläuft eine solche Diskussion also wie das sprichwörtliche Taubenschach: Am Ende wirft die Taube die Spielfiguren um und behauptet, sie habe gewonnen.
Was bewirkt die Strategie?
Zunächst wird man durch das ständige Nachfragen unter Zugzwang gesetzt. Man möchte die Diskussion nicht unhöflich abbrechen. Allerdings erscheint keine der üblichen Möglichkeiten, mit der Situation umzugehen, besonders attraktiv: Entweder man versucht, alle Fragen zu beantworten und springt somit über die sprichwörtlichen Stöckchen, die einem von den Seelöwen hingehalten werden, oder man verweigert einem vermeintlich interessierten Menschen die Möglichkeit, dazuzulernen. Im schlimmsten Fall reagiert man irgendwann genervt und emotional – und dann gibt sich der Seelöwe tief verletzt: Er hat doch nur Fragen gestellt!
So oder so hat man das Gefühl, “verloren” zu haben, was genau das Ziel dieser Strategie ist. Dazu kommt: Wenn die Einstiegsfrage des Sealionings nur auf einen Nebenaspekt des eigentlichen Themas abgezielt hat, wurde dieses mittlerweile garantiert aus den Augen verloren. Sealioning kann daher auch einen Derailing-Effekt haben.
Warum ist sie so gefährlich?
Die Sprachanthropologin Dr. Amy Johnson vom MIT, die u.A. zu Hassrede in sozialen Netzwerken forscht, vergleicht das Sealioning mit einer Denial of Service-Attacke (Nachzulesen hier auf Seite 14) – nur werden statt Servern Gesprächspartner*innen durch unendlich viele Anfragen in die Knie gezwungen. Das ist der Tod jeden fruchtbaren Dialogs, da es auch hier (ähnlich wie bei vielen anderen Taktiken der Desinformation) von Anfang an bei einem Part nicht um eine echte Diskussion mit dem Austausch von Argumenten geht, sondern darum, das Gegenüber zu demotivieren und Überlegenheit zu demonstrieren.
Selbst wenn es nicht dazu führt, dass sich ein*e Gesprächsteilnehmer*in frustriert zurückzieht, bindet es (beispielsweise bei der Moderation von Kommentarspalten in sozialen Medien) Energie und Ressourcen, die anderswo dringend gebraucht werden.
Ein weiterer wichtiger Aspekt: Durch penetrantes, aber scheinbar wohlwollendes Fragen wird versucht, Zweifel zu säen und das Gegenüber in Bezug auf die eigenen Positionen und Überzeugungen zu verunsichern.
Was tun, und was nicht?
Wie bei allen Techniken, die auf die Zerstörung des Diskurses angelegt sind, ist die beste Strategie, nicht darauf einzusteigen. Die Schwierigkeit besteht darin, zu erkennen, wann es sich um Sealioning handelt, und wann um legitime und ernst gemeinte Fragen.
Ein paar Orientierungshilfen:
- Wurde die Frage zum wiederholten Mal gestellt?
→ Dann kann man ebenso höflich auf bereits gegebene Antworten verweisen, wenn der Seelöwe danach fragt.
- Betrifft sie einen wichtigen Punkt der Diskussion oder bezieht sie sich auf einen unwichtigen Aspekt, den man zu einem späteren Zeitpunkt behanden kann?
→ Wenn es sich um eine wichtige Frage handelt, deren Beantwortung zur Weiterführung der Diskussion erforderlich ist, kann man sie einmal, gerne knapp, beantworten. Handelt es sich um echten Klärungsbedarf, wird das an der Reaktion auf die Antwort schnell klar: Bedankt man sich für die Erklärung, oder wird eine (nicht notwendige) Nachfrage gestellt?
- Kann die Frage durch eine schnelle Suche selbst beantwortet werden, weil sie sich auf allgemeine Grundlagen bezieht? (z.B.: “Woher willst du wissen, dass die Erde nicht flach ist? Hast du dafür Belege?”)
→ Auf die Suchmaschine des Vertrauens verweisen.
- Geschulte Diskussionsteilnehmer*innen mit Zeit, Freude und Energie können den Spieß umdrehen und ihrerseits vom Seelöwen Quellen und Belege fordern. Das kann dazu führen, dass der Seelöwe die Lust verliert, andere vorzuführen, wenn er selbst vorgeführt wird. Diese Taktik sollte jedoch nur sehr wohlüberlegt eingesetzt werden, da ein Spiegeln der Taktik in einer öffentlichen Diskussion in sozialen Medien oder in Gruppen natürlich die negativen Aspekte (Derailing, Whataboutism) reproduziert.
→ In den sozialen Medien ist es hilfreich, Seelöwenkommentare nur auszublenden und nicht zu löschen, damit der Seelöwe sich nicht darüber beschweren kann, dass seine Kommentare gelöscht werden.
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