Whataboutism
Whataboutism ist eine Strategie, bei der taktisch mit „Und was ist mit XYZ?“-Fragen vom eigentlichen Thema abgelenkt und die Diskussion auf einen Nebenschauplatz geführt werden soll. Entweder, weil eine Person/Partei dort argumentatorisch besser aufgestellt ist oder weil dann andere/weitere Taktiken des Derailings (dt.: Entgleisenlassen) einer Diskussion zum Einsatz kommen können.
Der zuerst diskutierte Sachverhalt wird weder bestritten noch gerechtfertigt oder entschuldigt, sondern es wird ein anderer Missstand ins Feld geführt. Dieser kann, muss aber nichts mit dem eigentlichen Thema zu tun haben. Die Bezeichnung stammt von der Frage “And what about …?”, auf Deutsch “Und was ist mit …?”.
Wie funktioniert es?
Auf eine getätigte Äußerung wird nicht mit einem validen Argument, sondern mit einer Gegenfrage geantwortet. Dies spielt den Ball der Diskussion zunächst wieder zurück und unterstellt, sich über Gebühr einem Thema zu widmen, während andere Missstände ignoriert würden. Zum Beispiel: „Ihr helft nur den Geflüchteten, aber nicht den Obdachlosen!“ Dabei wird gleichzeitig die ursprünglich getätigte Äußerung (hier: wir müssen Geflüchteten helfen) moralisch entwertet und infrage gestellt. Der Fokus wandert nun meist auf das neu eingebrachte Argument und das eigentliche Thema geht unter, die Diskussion ist im Extremfall komplett zerstört. Whataboutism gehört daher zu den destruktivsten Ablenkungs- und Hinhaltetaktiken.
Eine konstruktive Diskussion wird so meist im Kern erstickt. Die Technik ist praktisch unbegrenzt anwendbar, da es keinerlei Notwendigkeit eines logischen, räumlichen oder zeitlichen Zusammenhangs zwischen These und Antwort gibt.
Vorsicht: Whataboutism hat insofern eine Sonderstellung innerhalb der Manipulationstechniken, als dass auch der Vorwurf selbst eine manipulative Funktion erfüllen kann. Wenn jemand einen extremen Sonderfall nutzt, um daraus eine allgemeine Folgerung abzuleiten, stellt dies erstmal keinen Whataboutism dar, wenn man diesen Sonderfall einordnet. Auch die Forderung, Kritik aus einer glaubwürdigen Position heraus auszuüben, ist zunächst einmal kein Whataboutism.
Ein paar Beispiele
So weit verbreitet, dass sie zu einem geflügelten Wort wurde, war in der Sowjetzeit eine Antwort auf den Vorwurf von Menschenrechtsverletzungen: „Und in den USA lynchen sie Schwarze“.
Donald Trump verwies im Wahlkampf bei Anfeindungen stets auf die E-Mail-Affäre von Hillary Clinton; mit dem Ergebnis, dass man heute eher diese im Kopf hat, als die zahllosen Anschuldigungen gegen Trump.
Auch die stereotype Erwähnung, dass es auch Linksextremismus gibt, sobald über Rechtsextremismus gesprochen wird (Hufeisentheorie), wird zum Whataboutism, wenn sie dazu führt, dass das Gespräch dann vom eigentlichen Gegenstand weggeführt wird.
Die Strategie ist im Diskurs, aber auch in der Alltagskommunikation so weit verbreitet, dass jede*r problemlos Beispiele aus der eigenen Erfahrung zitieren kann: Sehr oft, wenn auf ein Argument oder eine These mit „und was ist mit XY“ oder „aber XY machen so etwas auch“ geantwortet wird, sollte man prüfen, ob es sich um einen Whataboutism handelt oder um eine – zulässige – Einordnung.
Wer hingegen in einer Diskussion über das Existenzrecht Israels die Mitglieder der „Neturei Karta“ (eine zahlenmäßig verschwindend kleine ultra-orthodoxe Gruppe, die den Staat Israel aus religiösen Gründen ablehnt) als Argument dafür anführt, dass es auch antizionistische Juden/Jüdinnen gibt, muss damit leben, dass man diese Splittergruppe (wenige hundert bis wenige tausend Personen) in ein Verhältnis zur gesamten jüdischen Bevölkerung setzt.
Was bewirkt die Strategie?
Diskussionen, die mit Whataboutism beginnen, enden eigentlich schon, bevor irgendwelche Argumente ausgetauscht werden können. Das Gespräch/die Debatte wird von ihrem eigentlichen Gegenstand weggeführt, und das relevante Thema wird letztlich nicht bearbeitet.
Whataboutism bereitet somit auch den Weg für andere destruktive und manipulative Techniken wie Gish Gallopp (das Abfeuern von Fragen oder [Schein-]argumenten in so rascher Folge, dass keine Auseinandersetzung mit dem einzelnen Thema erfolgen kann), weitere Formen des Derailings oder Strohmänner (verzerrte Standpunkte unterstellen).
Nicht nur das Zerstören des Diskurses, sondern auch die Verunsicherung der Gesprächspartner*innen ist erklärtes Ziel von jemandem, der Whataboutism als Taktik einsetzt. Sie zielt somit nicht auf ein Argument oder eine These, sondern auf das Gegenüber selbst, indem indirekt in Frage gestellt wird, ob es in der moralisch “richtigen” Position ist, Kritik zu üben. Ein als Whataboutism gebräuchlicher Vorwurf ist daher oft die Doppelmoral (Beispiel: Raucher*innen hätten keine Berechtigung, andere Raucher*innen des Rauchens wegen zu kritisieren, was jedoch ein Fehlschluss ist, da Rauchen in jedem Fall gesundheitsschädlich ist, egal wer es kritisiert.)
Warum ist sie so gefährlich?
Whataboutism erstickt einen Austausch über Argumente im Keim und wirkt so sehr effektiv bei der Behinderung konstruktiver Auseinandersetzung. Da kein Zusammenhang zwischen Vorwurf und “what about” bestehen muss, kann man sich auf eine solche Entgegnung inhaltlich kaum im Vorfeld einstellen. Diskutierende sind gezwungen sich spontan damit auseinanderzusetzen und zu entscheiden, ob es sich um eine gerechtfertigte Einordnung handelt oder einen zurückzuweisenden Whataboutism.
Wenn in wichtigen Diskussionen vom Thema abgelenkt wird, Debatten auf Nebenschauplätze entführt werden, wird die eigentliche – oft wichtige – Diskussion nicht geführt. Stattdessen wird Zeit und Aufwand damit vertan, über ein „Phantom“ zu diskutieren, was im Extremfall überhaupt nichts mit dem eigentlichen Thema zu tun hat. Ein gesellschaftlicher Diskurs zu wichtigen Themen wird damit effektiv verhindert.
Mit dem stetigen Wiederholen immer derselben Pseudoargumente verfestigen sich diese im gesellschaftlichen Bewusstsein und können dazu führen, dass bestimmte Argumente gar nicht mehr zur Sprache kommen, weil sie oft genug mit einem Whataboutism niedergebügelt wurden.
Dass man diese Taktik auch teilweise unbewusst anwenden kann, wenn man aufgrund seiner Meinung beispielsweise einen validen Zusammenhang zwischen dem Argument und der eigenen Nachfrage sieht, macht es nicht ungefährlicher.
Was tun, und was nicht?
Zunächst: Immer besonnen und sachlich antworten. Ein Whataboutism hat oft emotional aufgeladene Argumente, von denen man sich nicht aus der Ruhe bringen lassen darf.
- Handelt es sich um einen echten Whataboutism? Dann darf man diesen direkt zurückweisen mit dem Hinweis, beim Thema X der Diskussion zu bleiben (und Thema Y eventuell im Anschluss zu diskutieren).
- Da es erklärtes Ziel ist, die Gegenseite aus der Fassung zu bringen, sollte man immer besonnen reagieren. Kann man den Gegenbeitrag z.B. nicht beurteilen, kann man dies genau so sagen und ebenfalls eine gesonderte Diskussion im Anschluss anbieten.
- Auf keinen Fall sollte man sich vom Überraschungseffekt überrumpeln lassen und zulassen, dass das Gespräch entgleitet. Im Zweifel die Diskussion mit Verweis auf eine Entgleisung besser abbrechen, als durch unsinniges Fortführen eine Bühne für weitere Desinformationstaktiken zu bieten.
- Hat man es mit einer zulässigen Einordnung/Vergleich zu tun, kann man diese gemeinsam erörtern. So wird vielleicht ein neuer Aspekt beleuchtet, dem man bislang keine Beachtung geschenkt hat. Hiervon kann eine Diskussion sogar profitieren und es ist sogar möglich, eine Brücke zu bauen, indem man den Kern des zulässigen „what about“ anerkennt.
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